Ihr Weltbild

Ruth Werners politische Einstellung wurde durch ihr Elternhaus, die Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugendzeit und ihre lebenslangen Wahrnehmungen zu den Systemauseinandersetzungen geprägt.

Waltraud Schade schrieb in der Broschüre „Frauenmosaik – Frauenbiographien aus dem Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick“ unter anderem: „Ruth Werner wurde als Ursula Kuczynski in eine assimilierte deutsch-jüdische Familie geboren und war das zweite von sechs Kindern des Wirtschaftswissenschaftlers Robert René Kuczynski und der Malerin Bertha Kuczynski. … Ihr Leben dort war geprägt von einer sozialen Mischung. Die Kuczynskis führten ein offenes Haus, zu Besuch kamen Bankiers und Sozialdemokraten, Bürgerlich-Liberale und Gewerkschaftsführer und das Kind Ursula verkehrte mit gleichaltrigen Arbeiterkindern. …. Der Vater gehörte keiner Partei an, doch er stand politisch links. …. Als … Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg … bestialisch ermordet wurden, war sie schwer erschüttert und begann im Elternhaus über politische Zielsetzungen zu reden. Schon früh bildete sich bei ihr der Sinn für Gerechtigkeit aus, …. Sie las gern und viel, u.a. Maxim Gorkis „Die Mutter“ und „Nachtasyl“, diese Bücher politisierten sie und brachten ihr den Kommunismus nahe.“
Während ihrer Lehre in einer Buchhandlung erfasste sie immer mehr die sozialen Gegensätze in der Gesellschaft als eine fortbestehende Ungerechtigkeit, der sie etwas entgegensetzen wollte. Ein Arbeitskollege, Jungkommunist, zeigte ihr den Weg zum Kommunistischen Jugendverband, in den sie mit Siebzehn eintrat.

1926 wurde sie Mitglied der KPD. Sie besuchte die Schulungs- und Bildungsprogramme der kommunistischen Partei im Wedding, studierte Werke von Lenin und Marx und verfasste Artikel für die „Rote Fahne“, das Zentralorgan der KPD.

Sie nahm 1924 an der Maidemonstration teil und erlebte am eigenen Körper die brutale Gewalt der Berliner Polizei gegen die Demonstranten. In „Sonjas Rapport“ (Erste vollständige Ausgabe Neues Leben Verlags GmbH & Co. KG, 2006) schreibt sie auf S. 15 dazu: „Und wie das wehtat, man kann praktisch nicht mehr richtig atmen.“

Die theoretischen Erkenntnisse über den Kommunismus und die praktischen Erfahrungen mit der kapitalistischen Herrschaft verstärkten ihren Willen, alles für die Durchsetzung der kommunistischen Ideen weltweit zu machen. Sie wurde eine konsequente Kommunistin und Internationalistin. Die Sowjetunion sah sie als das Land an, welches am weitesten auf dem Weg zum Kommunismus vorangeschritten war.

Probleme bei der politischen Umsetzung der kommunistischen Ziele nahm sie wahr, ohne schon immer die konkreten Hintergründe dafür zu erkennen.

In „Sonjas Rapport“ S. 203-203 schreibt sie zu Erscheinungen 1937 in der Sowjetunion u.a.:

„Es war die Zeit des Personenkults und der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“, … „Als ich meine alten Freunde in Soloniki besuchte, traf ich nur Lisa und die Kinder an, der Mann war verhaftet worden. Lisa sagte mir ruhig und gefaßt, niemals habe ihr Mann ein Verbrechen gegen die Partei oder die Sowjetunion begangen.“

„Wir hatten beide die gleiche Erklärung. Es könnte sein, daß ihm ein ernster Fehler in der Arbeit unterlaufen war. In einer Zeit, wo die Imperialisten … zahlreiche Agenten eingeschleust hatten, war es nicht immer leicht für die Verantwortlichen, zwischen Fehlern ehrlicher Genossen und Taten des Gegners zu unterscheiden. Bei vielen Schuldigen konnte es geschehen, daß auch Unschuldige mitbetroffen wurden, aber das würde sich klären.“

Und auf S. 207:

 „Die Genossen in leitender Stellung wechselten damals leider sehr oft.“

Zur Politik der sowjetischen Führung 1939 kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges schrieb sie in „Sonjas Rapport“ S. 233: „Am 23. August, am Tage des Nichtangriffspaktes zwischen der Sowjetunion und Nazideutschland, traf ich Hermann in Zürich. Wir diskutierten stundenlang; Der Nichtangriffspakt zwischen Stalin und Hitler kostete uns viel Nachdenken.“

Ihre Haltung zu den Ereignissen im Zusammenhang mit dem „Prager Frühling“ schätzte ihr Sohn Peter Beurton in „Sonjas Rapport“ S. 364-365 ein:

„Mutter und Len waren der Meinung, die Sowjetunion begehe manchmal grundlegende Fehler. Nach zwei, drei Monaten hatten sich die Eltern wieder gefangen und haben begonnen den Einmarsch zu verteidigen. Sie bekamen wieder die Kurve.“

Ihr Weltbild wurde schwer belastet, als die Verbrechen gegenüber Kommunisten in der Sowjetunion ersichtlich wurden.

Sie schreibt darüber in „Sonjas Rapport“ S. 341:

„Als Chruschtschow Stalins Schuld auf dem zwanzigsten Parteitag 1956 aufdeckte, waren das russische Volk und Kommunisten aus aller Welt schockiert. Viele wollten es nicht glauben. Und ich muß den besonderen Schmerz erwähnen, den ich fühlte, als ich (viel später noch) erfuhr, daß Kolzow, Borodin, Manfred Stern, Karl Rimm – alles ehrliche und tapfere Kommunisten – von Stalin umgebracht wurden. Aber ich muß auch hinzufügen, daß ich nicht diese zwanzig Jahre im Gedanken an Stalin arbeitete. Wir wollten dem russischen Volk in seinem Bemühen, den Krieg zu verhindern, helfen und dann, nachdem der Krieg gegen Hitlerdeutschland ausbrach, ihn zu gewinnen. Aus diesem Grunde habe ich durchgehalten.“

Auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 führte sie in ihrer Rede unter anderem aus:

„Wir hatten auf dem XX. Parteitag der KPdSU vom Mißbrauch der Macht und den dafür Verantwortlichen gehört. Auch dies blieb unvergessen,  Diese Dinge haben nichts an meiner Beziehung zum sowjetischen Volk und nichts an meiner Weltanschauung geändert. Aber im Rahmen dieser Weltanschauung mußten die dunklen Seiten jener Zeit verarbeitet werden. Seitdem achte ich besonders auf demokratisches Verhalten, niemanden täuschen, nichts vertuschen.“ (Zitiert in „Funksprüche an Sonja“ Neues Leben Berlin 2007 S.213.)

Nach der gesellschaftspolitischen Krise in der DDR schätzte sie rückblickend ein:

„Und dann war ich vierzig Jahre lang in der Deutschen Demokratischen Republik aktiv tätig …. In all dieser Zeit akzeptierte ich unsere Regierung und unsere Parteivorsitzenden mit nur geringen Kritikpunkten.“  (Siehe „Sonjas Rapport“ S. 341)

„Was ich nicht mochte in unserem Land war der von Jahr zu Jahr stärker werdende Dogmatismus innerhalb der Partei, sowie die Übertreibung unserer Fortschritte und das Vertuschen von Fehlern.“ …. „Aber ich glaubte immer noch, daß ein besserer Sozialismus erreicht werden konnte. Wir hofften, daß mit Glasnost und Perestroika, mit mehr Demokratie anstelle von Diktatur und absoluter Gewalt, mit realistischen ökonomischen Reformen die desillusionierten Massen zurückgewonnen werden könnten.“ (Siehe „Sonjas Rapport“ S. 342)

„Ich muß mit meiner Bitternis über die Parteiführung klarkommen, die mich dahinführte, wohin sie uns brachte.“ …. „Fühlte ich mich schuldig, daß ich mich beugte unter etwas, von dem ich wußte, daß es falsch war?“  (Siehe „Sonjas Rapport“ S. 343 u. 344)

Der Schriftsteller Eberhard Panitz, ein Freund von Ruth Werner, schreibt in seiner Erzählung „Morgenstunde bei Ruth Werner“ folgende Äußerung seiner 93-jährigen Freundin:

„Ich betrachte mein kurzes Leben auch nur als Teil des Lebens der gesamten Menschheit, vor uns waren Generationen, es folgen Generationen. Mein Ziel ist, daß Menschen auf der Erde besser und glücklicher werden. Deshalb bin ich Sozialist.“ (aus: „Funksprüche an Sonja“ S. 231)

Obwohl ihre kommunistischen Ideale sich bisher nicht realisierten, war sie von der Richtigkeit des wissenschaftlichen Sozialismus überzeugt. Sie hielt einen besseren, humanistischen Sozialismus für möglich und glaubte, dass die Menschheit das erreichen kann. In diesem Sinne war sie bis zu ihrem Lebensende wirksam.