Im Nachrichtendienst

Ruth Werner arbeitete von 1930 bis 1950 für die Glawnoe Raswedywatelnoje Uprawlenie (GRU), auf deutsch: Hauptverwaltung Aufklärung, dem damaligen sowjetischen geheimdienstlich organisierten Militärnachrichtendienst mit Sitz in Moskau.

1. Einbeziehung und erste Ausbildung

In das Blickfeld der GRU kam sie entsprechend ihren Aussagen in ihrem autobiographischen Werk „Sonjas Rapport“ Erste vollständige Ausgabe (Neues Leben Verlags GmbH & Co KG , Berlin 2006) vermutlich 1930 in Shanghai (China).

Als junge, überzeugte deutsche Kommunistin war sie bestrebt nach ihrer Übersiedlung nach Shanghai die illegal tätige chinesische kommunistische Partei zu unterstützen. Sie kam in Kontakt mit der amerikanischen Schriftstellerin Agnes Smedley, die als Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ in China arbeitete. Beide freundeten sich an, und ihr offenbarte sie ihren Wunsch. Agnes Smedley vermittelte ihr einen Kontakt mit dem deutschen Kommunisten Richard Sorge, der eine Gruppe illegal tätiger Personen leitete.

Das erste Treffen mit ihm hatte schon konspirativen Charakter. Ruth Werner erklärte sich sofort bereit ihre Wohnung für illegale Treffen zur Verfügung zu stellen.

In den 3 Jahren ihrer Mitarbeit in der Gruppe Richard Sorge eignete sie sich viele Verhaltensweisen und Erfahrungen für eine konspirative Arbeit in der Illegalität an und wurde systematisch Schritt für Schritt in eine geheimdienstliche Tätigkeit einbezogen. In ihrem Werk „Sonjas Rapport“ beschreibt sie diesbezüglich:

Auf Seite 54/55: „Ich blieb bei Richard und seiner Gruppe, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, welches ihre besonderen Aufgaben waren. Erst viel später erfuhr ich, daß es sich um Mitarbeit bei der sowjetischen Aufklärung des Generalstabes der Roten Armee handelte. Für mich änderte das nichts. Ich wußte, meine Tätigkeit unterstützte die Genossen des Landes, in dem ich lebte – ging diese aktive Solidarität von der Sowjetunion aus, fand ich das doppelt schön.“

Bei der Suche nach einer eigenen Wohnung in Shanghai berücksichtigte sie Gegebenheiten, die für konspirative Treffen günstig sind.

Auf Seite 56: „Die ganze Siedlung liegt wie in einem Pärkchen. Von der Straße aus geht man einen langen, ungepflegten Gartenweg geradeaus, biegt dann in einen anderen Gartenweg ein, der zum Haus führt. Wir haben also von allen vier Räumen den Blick ins Grüne und auf kein anderes Haus.“….

„Ebenso wichtig war, daß es zwei Ausgänge gab und die gesamte Grünanlage an zwei oder drei verschiedene Straßen grenzte.“….

„Richard und seine Mitarbeiter trafen sich …. am frühen Nachmittag bei mir, … Ich war niemals bei diesen Gesprächen zugegen, sondern wachte nur darüber, daß die Genossen nicht gestört wurden. Die Treffs fanden im ersten Stockwerk statt. Die unteren Räume waren nicht sicher vor Besuchern.“

„Die Angestellten betraten sowieso nicht die Zimmer, ohne daß nach ihnen geklingelt wurde. Die Haustür öffnete ich allen Gästen selbst;    Die Treppe ins obere Stockwerk führte von der Diele, die wir als Zimmer eingerichtet hatten, hinauf und konnte nicht, ohne daß ich es bemerkte, benutzt werden,“ Häufigen Besuchen von „Gästen“ wurde ein offizieller Anstrich gegeben.

Auf den Seiten 56/57: „Die chinesischen Genossen, die am häufigsten kamen, wurden nacheinander meine Sprachlehrer. Damit lag ein Grund vor, mich legal aufzusuchen, und ihre Besuche zu illegalen Zwecken fielen nicht auf.“

Als Beispiel zu einer guten Kontaktgestaltung und einer besseren Aufgeschlossenheit beschreibt sie eine gemeinsame Motorradfahrt auf der Seite 59:

… „fragte mich Richard überraschend, ob ich mit ihm Motorrad fahren wolle. Wir trafen uns an dem in der Nähe meiner Wohnung gelegenen Stadtrand. Ich fuhr zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Motorrad; …

… Mich begeisterte die Raserei. Ich rief ihm wiederholt zu, noch schneller zu fahren, und er tat mir den Gefallen. Als wir nach langer Zeit anhielten, war ich wie ausgewechselt. Das verhaßte Shanghaier gesellschaftliche Leben war vergessen und das Immer-erwachsen-sein-Müssen, die Verantwortung der Illegalität und die unnötige Sorge um das recht zarte Kind. Ich lachte, tobte herum und erzählte. Mir war egal, was Richard davon hielt. Vielleicht hatte er die Fahrt nur veranstaltet, um meinen physischen Mut zu prüfen. Falls er jedoch so klug gewesen war, nach einem besseren Kontakt zwischen uns zu suchen, hatte er das richtige Mittel gewählt. Nach dieser Fahrt war ich nicht mehr gehemmt, unsere Unterhaltungen gewannen an Wert. Ein Beweis dafür, wie wichtig auch die menschlichen Beziehungen sind und daß es vielleicht um ihretwillen richtig sein kann, die strikte Illegalität zu durchbrechen.“

Zu der Methode einer gezielten Abschöpfung von Personen schrieb sie auf der Seite 60:
„Während der Gespräche mit Richard bemerkte ich, daß er an mancher Unterhaltung, die ich mit unseren Bekannten geführt hatte, …, interessiert war, und lud die Gäste nun gezielter ein. Ich hatte es sehr gern, wenn Richard mir zuhörte, und spürte an seinem Gesichtsausdruck, ob ihm etwas wichtiger war oder nicht. So lernte ich kaum merklich durch seine Art, mit mir umzugehen, worauf es ihm ankam, und gewöhnte mir an, mich entsprechend mit den Menschen zu unterhalten.“

Ihre öffentliche Rolle als Illegale in der Gesellschaft beschreibt sie u.a. auf Seite 61:
„Vielleicht hing es mit der Rolle zusammen, die ich mir innerhalb der Shanghaier bürgerlichen Gesellschaft zugedacht hatte. Ich bin von Anfang an als bürgerlich-fortschrittlicher Mensch aufgetreten und habe aus meinem Interesse für China nie Hehl gemacht. Ich glaube, daß man sich in der Illegalität, wenn die Umstände es erlauben, eine Verhaltensweise suchen soll, die zu einem paßt. Mir schien für meine Person die „demokratisch-fortschrittliche Frau mit intellektuellen Interessen“ die beste. … Für das Bürgertum war es kein ungewohnter Weg, daß jemand der in der Jugend Kommunist gewesen war, mit dem Älterwerden „vernünftig“ wurde. Durch Rolfs Stellung saßen wir fest im bürgerlichen Sattel, und niemand wäre auf die für diese Menschen wahnsinnige Idee gekommen, ich könnte durch Kontakte mit Kommunisten meine Familie und alles, was wir uns in China geschaffen hatten, aufs Spiel setzen, noch dazu als Mutter eine kleinen Kindes.“

Ihre illegale Tätigkeit brachte aber auch Konflikte mit sich. So schrieb sie u.a. auf den Seiten 62/63:
„Die Frage des konspirativen Verhaltens griff tief in mein persönliches Leben ein. … Während der drei Jahre in Shanghai wußte Rolf nicht, daß unsere Wohnung illegaler Treffpunkt war, daß während langer Perioden Koffer mit Nachrichtenmaterial in den Schränken verborgen lagen. Er kannte einen Teil der Genossen, die meine engsten Freunde wurden, nicht, oder er traf sie, als harmlose Geschäftsleute getarnt, und ich mußte sie vor ihm auch so behandeln. … Ich nahm am Widerstandskampf teil, doch der Gefährte warnte mich davor und stellte sich abseits.“

Die Treffs in ihrer Wohnung wurden zeitweise unterbrochen, einmal aufgrund einer vermuteten Gefahrenlage und zum anderen, weil ein von den Behörden gesuchter chinesischer Genosse im Haus versteckt wurde. Sie schrieb dazu auf der Seite 79:
„Die Treffs wurden erneut unterbrochen, als Richard mich bat, einen chinesischen Genossen, der sich in Lebensgefahr befand, bei mir zu verbergen. Diesmal mußte ich Rolf einweihen, und das Gefürchtete geschah; er wehrte sich mit derselben Begründung wie vor der Geburt des Kindes: Die Gefahr für mich und Mischa sei zu groß. …  Schließlich stimmte er zu, aber mir war klar, daß unsere Ehe auf die Dauer nicht so weitergehen konnte. Später wurde Rolf ein Kommunist, der seine Treue zur Partei und der Sowjetunion viele Male bewiesen hat.“

Ruth Werner war sich der Gefährlichkeit ihrer illegalen Tätigkeit stets bewusst und stellte sich darauf ein. Sie schrieb auf Seite 108:
„Die Möglichkeit einer Verhaftung war mir immer gegenwärtig. Ich härtete mich bewußt körperlich ab, um widerstandsfähig zu sein, rauchte nicht, trank weder Kaffee noch Alkohol, damit ich mir das nicht in einer eventuellen Haft abzugewöhnen brauchte.“

Im Dezember 1932 endete ihre Zusammenarbeit mit Richard Sorge und damit die Etappe ihrer Erstausbildung im Geheimdienst. Richard Sorge gab ihr den Decknamen „Sonja“.

2. Einsatzorte

Nach der Einbeziehung in die Geheimdiensttätigkeit und ihre aktive Mitarbeit in Shanghai ging sie 1933 in die Sowjetunion zur Ausbildung als Funkerin.

Über diese Zeit schrieb sie im Buch „Sonjas Rapport“ auf Seite 124: „Ich lebte mich schnell ein; der Bau der Geräte machte mir Freude; beim Morsen kam ich gut mit; nur die Theorie lag mir überhaupt nicht. …  Ich baute Sender, Empfänger, Gleichrichterschaltungen und Wellenmesser und lernte Russisch.“

Im Frühjahr 1934 erfolgte ihr Einsatz in Mukden (heute Shenyang) in der Mandschurei, die zu diesem Zeitpunkt von Japan militärisch besetzt war.

Es gab dort chinesische Widerstandsgruppen, die von der Kommunistischen Internationale unterstützt wurden. Gemeinsam mit ihrem damaligen Vorgesetzten „Ernst“ halfen sie in der Sowjetunion ausgebildeten chinesischen Partisanen Gruppen aufzubauen, diese auszubilden und zu Aktionen gegen die Japaner zu führen. Ihre Haupttätigkeit bestand darin mit einem aufgebauten Sender die Funkverbindung mit der Sowjetunion zu halten und die Kuriertätigkeit mit den Partisanengruppen durchzuführen.

Ihre Reisen legalisierte Sie mit ihrer Arbeit als Buchhändlerin.

Die von ihnen angeleiteten Partisanengruppen störten vorrangig eine von den Japanern betriebene Eisenbahnlinie mittels selbst hergestellter Sprengstoffe mit Erfolg.

Darüber hinaus sendeten sie Stimmungs- und Tatsachenberichte politischer und militärischer Art an ihre Auftraggeber.

Aufgrund der Verhaftung einer Kontaktperson entschied die Zentrale, sie sofort aus Mukden abzuberufen. Sie gingen nach Peking. Die Enttarnung eines Mitarbeiters in Shanghai veranlasste die Zentrale im Herbst 1935, Ruth Werner völlig aus China abzuziehen. Das bedeutete auch die Trennung von „Ernst“, dem Vater ihres zweiten Kindes.

Ihre Erlebnisse in der Mandschurei hat sie literarisch in ihrem Buch „Der Gong des Porzellanhändlers“ verarbeitet.

Im Februar 1936 wurde sie gemeinsam mit Rolf, der inzwischen ebenfalls für die GRU arbeitete, nach Polen geschickt. In Warschau bauten sie erneut einen Sender auf und stellten die Verbindung zur Zentrale her.

Im Winter 1936 erhielt sie den Auftrag nach Danzig überzusiedeln, um die dort tätige Gruppe besser zu unterstützen. Im März 1937 wurde sie aus Danzig abberufen. Es zeigte sich, dass ihre Wohnung in Danzig für das Funken zu unsicher ausgewählt war.

Bei einem persönlichen Kontrollbesuch ihres Führungsoffiziers in Warschau ersuchte sie um eine Weiterbildung für modernere Sender in Moskau. Dem wurde stattgegeben.

Sie lernte in dem dreimonatigen Aufenthalt unter anderem komplizierte Sender zu bauen.

Während ihres Aufenthaltes in Moskau wurde ihr der Rotbannerorden mit Nr. 944 von dem Präsidenten der Sowjetunion Kalinin im Kreml überreicht.

Nach Polen zurückgekehrt hat sie sich in Zakopane niedergelassen und unterstützte eine weitere Gruppe in Danzig. Im Juni 1938 wurde sie aus Polen abberufen und in Moskau auf einen weiteren Einsatz vorbereitet.

Im August 1938 schickte die Zentrale sie in die Schweiz. Ihr wurde ein Mitarbeiter „Hermann“ an die Seite gestellt und sie sollte dort eine Gruppe aufbauen und leiten.  Die Arbeit richtete sich gegen Nazideutschland. Hermann sollte versuchen Verbindungen mit den Dornierflugzeugwerken in Friedrichshafen aufzunehmen.

Sie richtete sich in einem einzelnstehenden ehemaligen Bauernhaus „La Taupinière“ oberhalb von Montreux und dem Genfer See ein. Als Zuwegung diente ein weit einsehbarer Trampelpfad. Die Lage war für ihren Sendebetrieb günstig und sie begann schnell mit ihrer Arbeit. Später wechselte sie ihren Wohnsitz und zog nach Genf.

Im Spätherbst 1938 kontaktierte sie Allan Foote, einen ihr empfohlenen ehemaligen Spanienkämpfer, und bezog ihn in ihre Arbeit ein. Er sollte in München leben und versuchen, Verbindungen zu den Messerschmitt-Flugzeugwerken herzustellen.

Ein zweiter ehemaliger Spanienkämpfer Len Beurton wurde in gleicher Weise für die Arbeit gewonnen.  Er sollte sich in Frankfurt am Main niederlassen und versuchen, Kontakte zu IG-Farben zu schaffen.

Als Letzter der Gruppe kam Ende April 1939 „Hermann“, bürgerlich Franz Obermann, dazu. Er ließ sich in Fribourg/Westschweiz nieder und betrieb dann einen zweiten Sender.

Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges wurden die beiden englischen ehemaligen Spanienkämpfer aus Deutschland abgezogen und in der Schweiz von Ruth Werner zu Funkern ausgebildet.

Die Lage in der Schweiz für Emigranten verschlechterte sich. Eine englische Staatsangehörigkeit versprach mehr Sicherheit. Im gegenseitigen Einvernehmen erfolgte eine Scheidung von ihrem ersten Ehemann Rolf Hamburger und die zunächst vorgesehene „Scheinehe“ mit dem Engländer Len Beurton. Eine „Scheinehe“, die zu einer echten Ehe führte und bis zum Tode andauerte.

Im Winter 1939 bekam sie den Auftrag Sándor Radó Deckname „Albert“ zu unterstützen, der eine andere Gruppe leitete und ohne Verbindung zur Zentrale war.

Nach Problemen mit ihrer Hausgehilfin brachte sie ihre Kinder in Internate und wechselte ihren Wohnsitz.

Im Spätherbst 1940 schlug die Zentrale ihr vor die Schweiz zu verlassen und gemeinsam mit Len nach England zu gehen.

Dazu schrieb sie in „Sonjas Rapport“ auf S. 261:

„Albert war dagegen. Ich glaube, er betrachtete meine Zustimmung als eine Art Fahnenflucht. Aber dann war es eine Flucht in ein Land, das sich im Krieg befand und furchtbar von der damals noch überlegenen faschistischen Luftwaffe bombardiert wurde. Alberts Arbeit war wichtig, deshalb wollte er Len und mich behalten.“

Am 18.Dezember 1940 verließ sie ohne Len die Schweiz. Er sollte nachkommen, sobald eine für ihn sichere Reiseroute bestand.

Die ersten Wochen in England waren schwer, ohne geeignete Unterkunft, ohne Verbindung zur Zentrale und ohne finanzielle Mittel. Im April 1941 fand sie ein geeignetes möbliertes Häuschen nahe Oxford und im Mai den persönlichen Kontakt zu ihrem Führungsoffizier.

Beim Aufbau ihres Nachrichtennetzes hoffte sie auf die Unterstützung ihres Bruders Jürgen und ihres Vaters. Dazu auf S.278 in „Sonjas Rapport“:

„Vater traf sich hauptsächlich mit linksgerichteten Wirtschaftswissenschaftlern und Labour-Party-Politikern; um diese Zeit übten viele von ihnen eine mit dem Krieg verbundene Tätigkeit aus, und er erzählte mir davon.“

Und auf S. 279:

„Jürgen fertigte wirtschaftliche Analysen für die Sowjetunion an. Fakten, die nicht sein Gebiet betrafen, für mich aber von Interesse waren, ließ er mich wissen.“

Ihr Bruder vermittelte auch den Kontakt zu Hans Kahle, ehemaliger deutscher Spanienkämpfer, der als militärischer Korrespondent der englischen Zeitungen „Times“ und „Fortune“ tätig war. Nach Zustimmung der Zentrale wurde er als Quelle mit einbezogen.

Später nahm sie Verbindung auf zu einem Luftwaffenoffizier, der teilweise Zugang zu neuesten Entwicklungen in der Flugzeugkonstruktion hatte und gewann einen zusätzlichen Funker.

Len nutzte, nach seiner Rückkehr im Spätsommer 1942, Verbindungen, die sie nicht kannte. Unter anderem zu einem Spezialisten für Panzerlandungen vom Wasser aus und für Radargeräte und zu Chemikern.

1942–1943 führte sie eine Mittlerrolle zwischen dem Atomphysiker Klaus Fuchs und dem militärischen Aufklärungsdienst aus.

Dazu Auszüge aus „Sonjas Rapport“: S. 289:

„Die Verbindung zu Klaus Fuchs regte mein Bruder Jürgen ungefähr Ende 1942 an. Er schilderte ihn als wichtigen Genossen mit interessanter Arbeitsstelle, der anscheinend die Verbindung zur Sowjetunion verloren hatte. Ich sendete eine codierte Nachricht an die Zentrale in Moskau und erhielt die Antwort: Kontaktaufnahme erwünscht.“

Sie arrangierte ein Treffen mit ihm in der Nähe von Banbury. S. 290

„Bei weiteren Treffen hatte er Fragen an die Zentrale, die mich entfernt den Charakter seiner Arbeit ahnen ließen.“

„Um unsere Treffen möglichst zu begrenzen, benutzten wir einen „Briefkasten“, obwohl das Wort in unsrem Fall nicht paßte. …. Ich suchte unsere Verstecke oder Treffen möglichst außerhalb der Stadt in einsamen Gegenden aus, so daß ich mein Rad benutzen konnte. …. „Klaus kam niemals in meine Wohnung und ich nicht in seine. Wir kannten nicht unsere gegenseitigen Adressen. Ich glaube kaum, daß er damals wußte, daß ich Jürgens Schwester war.“

„Einmal, es muß 1943 gewesen sein … gab mir Klaus ein dickes Buch mit Blaupausen, sicher über hundert Seiten stark, mit der Bitte um schnelle Weitergabe.“

S. 291:

„Zweimal quittierte die Zentrale seine Nachrichten mit „wichtig“ und „sehr wertvoll“.
„Ungefähr
zwei Jahre nach Beginn der </iZusammenarbeit beauftragte mich die Zentrale, ein Treffen mit Klaus in New York zu vereinbaren.  … Ich wählte das Settlement sowie Erkennungszeichen und Kennwort aus. Ich glaube, daß sie von Klaus Fuchs und seinem Partner benutzt wurden.“

S.291/292:
„Obwohl mir ohne zu wissen, daß es sich im Endziel um die Atombombe handelte, die Bedeutung meines Materials klar war, blieb mein Anteil gering. Ich war nur der technische Übermittler und möchte nicht, daß dies später einmal hochgespielt wird.“

S. 292:

„Als Klaus Fuchs nach New York übersiedelte, war mein Kontakt mit ihm beendet.“

Zu ihrer Gruppe gehörte des Weiteren Melita Norwood (Deckname „Hola“), die seit 1937 als Sekretärin in einem Unternehmen, welches metallurgische Forschung betrieb, geheime Informationen an die Sowjetunion lieferte. Der englische Autor von Spionagebüchern Ben Macintyre schrieb in seinem Buch „Agent Sonja“ (Insel Verlag, erste Ausgabe 2022) auf Seite 303: „Norwood ergänzte, bestätigte und erweiterte in manchen Fällen den Schwall der von Fuchs gelieferten Informationen.“

Ihr Bruder Jürgen bekam im Herbst 1944 eine Anstellung bei der USA-Armee im Büro für amerikanische Bombenstrategie und dadurch auch Kontakt zu einem Offizier des Office of Strategic Services (OSS). Das OSS, als Vorläufer der CIA, bereitete eine nachrichtendienstliche Operation im faschistischen Deutschland, Deckname „Tools“, vor und suchte dafür unter den im Londoner Exil lebenden Deutschen Freiwillige, die bereit waren im Auftrage der Amerikaner in Deutschland eingeschleust zu werden und  strategische Informationen über die militärische und industrielle Produktion Deutschlands zu übermitteln. Dieser OSS-Offizier ersuchte Jürgen um Unterstützung bei der Auswahl geeigneter Personen. Abgestimmt mit der Zentrale gelang es Ruth Werner einen Mittelsmann in die OSS einzuschleusen, der bei der Rekrutierung, Ausbildung und Führung der Freiwilligen mit entscheidend beteiligt war und so die sowjetischen Interessen einfließen lassen konnte.

Damit flossen alle Informationen über diese amerikanische Spionageoperation in Deutschland, einschließlich der Vorbereitungsmethoden, des Einsatzes moderner Kommunikationstechnik („Walkie -talkie“) und Spionageergebnisse u.ä, auch an die Sowjetunion.

Den eingeschleusten „Spionen“, deutschen Antifaschisten, war ihre Doppelrolle bekannt. Sie berichteten u.a. aus der Hauptstadt Deutschlands in der Endphase des Krieges.

Nach dem Kriegsende wurde die Arbeit in Richtung OSS abgebrochen.

Die anderen Kontakte wurden weiterhin gepflegt, und sie lieferte Informationen über die Nachkriegspolitik der Alliierten. Die Zentrale brach die Verbindung mit ihr 1946 ab.

Im August oder September 1947 wurde sie von Mitarbeitern des MI 5 (Englischer Inlandsgeheimdienst) aufgesucht, mit dem Vorhalt, russische Agentin zu sein, konfrontiert und zu einer Zusammenarbeit aufgefordert. Sie und auch Len lehnten ein solches Ansinnen ab. Eine Beobachtung durch den englischen Geheimdienst vor oder auch nach dieser Begegnung wurde nicht festgestellt.

Da keine Verbindung zur Zentrale bestand und eine neue Verbindungsaufnahme nach dem Besuch durch die Mitarbeiter der englischen Spionageabwehr unwahrscheinlich war, bemühte sie sich um eine Zustimmung für eine Übersiedlung nach Deutschland. Nachdem sie 1950 Pressenachrichten über die Verhaftung von Klaus Fuchs erhielt, intensivierte sie ihre Bemühungen.

Dazu in „Sonjas Rapport“ S. 292:

„Als die Presse erwähnte, Klaus habe sich in Banbury mit einer schwarzhaarigen Ausländerin als Mittelsmann getroffen, rechnete ich täglich mit meiner Verhaftung.“

„Ich betrieb meine Abreise in großer Eile und verließ England…“

Ende Februar 1950 erfolgte die Übersiedlung nach Berlin.

Ende April 1950 kam ein verantwortlicher Mitarbeiter der Zentrale und befragte sie über die letzten Jahre in England und zeigte ihre verschiedenen Möglichkeiten einer Weiterarbeit für die GRU auf. Ruth Werner wollte aber eine Beendigung der geheimdienstlichen Arbeit. Damit hatte die Zentrale nicht gerechnet. Bis Anfang 1951 gab es sporadische Treffen mit Mitarbeitern der GRU, bei denen sie, wiederholt über ihre Arbeit in England und der Schweiz berichten sollte und auf eine weitere Mitarbeit gedrängt wurde. Da sie aber auf eine Beendigung bestand, wurde der Kontakt aufgegeben und sie gab eine Schweigeverpflichtung über ihre bisherige Tätigkeit für die GRU ab.

3. Bewertungen

Eine Bewertung ihrer circa 20-jährigen Tätigkeit für die GRU ist abhängig von dem Standpunkt des Bewerters zum Kommunismus und der Sowjetunion.

Für die eine Seite war es Spionage und Verrat, für die Anderen Kundschaftertätigkeit und Einsatz für die kommunistische Sache, gegen Kapitalismus, Faschismus und Krieg.

Unbestritten und fern von ideologischer Haltung ist die Wertung des Autors Werner Liersch anlässlich der Gesinnungsschnüffelei bei der Zusammenlegung der P.E.N.- Clubs West und Ost 1998: „Wenn Ruth Werner mit ihrer Tätigkeit den Krieg auch nur um zwei Stunden verkürzt hat, dann hat sie Hunderte von Leben gerettet,“ ( Aussage ihres Sohnes Michael Hamburger in „Sonjas Rapport“ Seite 366.)

Ausgehend von ihrer festen kommunistischen Haltung arbeitete „Ruth Werner“ für die Kommunistische Internationale in Shanghai, gegen die japanische Besatzungsarmee in der Mandschurei, gegen deutschen Faschismus in Polen, in der Schweiz und in England.

Im Verlaufe des zweiten Weltkrieges wurden die USA, Großbritannien und die Sowjetunion Alliierte im Kampf gegen das faschistische Deutschland. Auf politischem und geheimdienstlichem Gebiet gab es aber aufgrund der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme keine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Diese Konstellation wurde durch die nachrichtendienstliche Tätigkeit von ihr, insbesondere auch die Übermittlung der wissenschaftlichen Ergebnisse der Atombombenforschung in England und die Unterwanderung der amerikanischen „Tools“ Operation, erheblich durchkreuzt.

Ihre Arbeit trug in nicht geringem Maße mit dazu bei, im anschließenden „kalten Krieg“ ein annäherndes Kräftegleichgewicht der unterschiedlichen Systeme zu erhalten und eine dominante Vormachtstellung eines Staates in der Welt zu verhindern.

Ihr Auftraggeber, die Sowjetunion, hat ihre nachrichtendienstlichen Leistungen als Kundschafterin mehrfach gewürdigt und ihr immer verantwortungsvollere Aufgaben (Aufbau und Leitung eigener Gruppen, Leitung der illegalen Residentur in England) auferlegt. Mehrfach wurde sie für die Qualität der übermittelten Nachrichten gelobt. Beispielsweise im August 1943 nach ihrer Aussage vom Chef der GRU wörtlich: „Wenn wir fünf Sonjas in England besäßen, wäre der Krieg früher zu Ende“ (vergleiche „Sonjas Rapport“ S. 300/301).

1937 wurde ihr der höchste militärische Orden der Sowjetunion, der Rotbannerorden, durch den damaligen Präsidenten der SU Kalinin im Kreml verliehen. Nach ihren Angaben erhielt sie ein zweites Mal den Rotbannerorden 1969, überreicht durch den sowjetischen Botschafter in der DDR. Nach einem Besuch des Militärattachés der Russischen Botschaft zu ihrem Geburtstag 2000 wurde ihr am 7. Oktober 2000 postum der „Orden der Freundschaft“ der Russischen Föderation verliehen.

Ruth Werner war stolz darauf, Soldat der Roten Armee zu sein. Auf Dienstgrade oder Auszeichnungen legte sie keinen Wert. Aber sie war ein disziplinierter Angehöriger, mit vollem Vertrauen zu ihrer Dienststelle, und hielt bis zum Ausscheiden alle ihr auferlegten Vorschriften und Verpflichtungen ein. Erste leichte Zweifel an einem Vertrauensverhältnis mit ihrem Auftragsgeber kamen nach ihrer Rückkehr in die DDR aufgrund mehrfacher Befragungen von ihr und auch Len, die fast den Charakter von Vernehmungen hatten, auf. Zu Widersprüchen mit der Zentrale kam es im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihres autobiographischen Werkes „Sonjas Rapport“. (vergleiche Bernd-Rainer Barth: „Vom Geheimmanuskript zum zensierten Bestseller“ in Studienbibliothek info Nr.57)

Ein weiterer Aufklärer der GRU, Leiter einer anderen Gruppe in der Schweiz. Sándor Radó schrieb in seinem Buch „Dora meldet“ (Militärverlag der DDR 1974) auf Seite 156 ff unter anderem:

„Ungefähr seit Anfang Januar 1940 hatten wir durch Sonjas (Ruth Werner) Sender eine stabile Funkverbindung mit Moskau. Während der Zeit unserer Zusammenarbeit wußte ich lange Zeit nur recht wenig über Sonja. Ich hatte keine Ahnung, wo sie wohnte, wer ihre Mitarbeiter waren, und welche Informationen sie sammelte. … Ich ahnte lediglich, daß sie eine zuverlässige Mitarbeiterin der Zentrale war und über beachtliche Erfahrungen verfügte. Unsere beiden Gruppen arbeiteten völlig selbständig und isoliert voneinander, bis uns die Umstände veranlaßten, die Verbindung zwischen ihnen herzustellen.“

Sándor Radó hatte vor der Zusammenarbeit keine Verbindung mehr zur Zentrale. Mit Hilfe von Ruth Werner hatte er dann 2 Funkgeräte und 3 ausgebildete Funker, bevor sie die Schweiz verließ.

Der erfolgreiche englische Autor mehrerer Spionagebücher Ben Macintyre führte umfangreiche Recherchen zu Ruth Werner und ihrem Umfeld, insbesondere auch in den Unterlagen der englischen Geheimdienste durch. In seinem Buch „Agent Sonja“ bezeichnet er sie in der Einleitung u.a. als:

„… Oberst der Roten Armee, eine überzeugte Kommunistin, hochdekorierte Offizierin des sowjetischen Militärgeheimdienstes und hochqualifizierte Spionin“ … „Aber…(ihr)…wichtigster Undercoverauftrag war einer, der die Zukunft der Welt bestimmen sollte: Sie half der Sowjetunion beim Bau der Atombombe.“

Und auf Seite 327: „Unterdessen leitete Oberst Kuczynski (Ruth Werner) … das größte Spionagenetzwerk in Großbritannien; Geschlecht, Mutterschaft, Schwangerschaft und ein offensichtlich langweiliges Alltagsleben bildeten zusammen die perfekte Tarnung. Männer glaubten schlicht und einfach nicht, dass eine Hausfrau, die ein Frühstück aus Eipulver zubereitete, die Kinder in die Schule schickte und dann mit dem Fahrrad hinaus aufs Land radelte, in der Lage sein könnte, wichtige Spionage zu betreiben.“

Nach seiner Meinung verhinderten Ignoranz und Unfähigkeit verantwortlicher Mitarbeiter des englischen Inlandsgeheimdienstes „Ruth Werners“ Tarnung zu durchbrechen, obwohl sie und ihre in England lebende Familie mehrfach ins Blickfeld des Dienstes kam.

Ruth Werner hatte sich in ihrer Geheimdienstarbeit bestens qualifiziert. Sie war umsichtig, klug abwägend, vorausschauend und bei Konfrontationen gelassen und schlagfertig. Ehrgeizig war sie um maximale Ergebnisse bemüht, Unterforderungen machten sie unzufrieden. Ihre Einstellung auf der richtigen Seite zu stehen ließen sie schmerzhafte Bedingungen im persönlichen und familiären Umfeld wie Trennung von Partnern und zeitweise von Kindern ertragen.

Ihr Sohn Peter Beurton äußerte hinsichtlich der Triebkräfte in ihrem Leben: „In ihrem Leben gab es zwei wichtige Dinge, ihre Kinder und die kommunistische Sache. Ich weiß nicht, was sie getan hätte, wenn sie sich für eines von beiden hätte entscheiden müssen.“ (siehe „Agent Sonja“ S.435)

Trotz gut durchdachter Aufklärungsarbeit hatte sie auch Glück vor einer Enttarnung mit schwerwiegenden Folgen bei seltenen kleinen Fehlern, vergeblichen Denunziationen, oder auch vor Verleumdungen beim Auftraggeber während der stalinistischen Säuberungsaktionen.

Sie war mutig und risikobereit bei vielen Aktionen, aber auch anlässlich der Beendigung ihrer geheimdienstlichen Arbeit.

Am 13. Juli 1967 wurde sie durch den Verbindungsmann der GRU beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR von ihrer Schweigepflicht, eingeschränkt auf wenige Angehörige des MfS, entbunden und zur Berichterstattung über ihre geheimdienstliche Tätigkeit gegenüber dem MfS beauftragt.